Kolorierte Nostalgie in den Selbstporträts von Youssef Nabil
Hannah Hänggi
Die Selbstportraits von Youssef Nabil sind, optisch wie auch inhaltlich, sinnliche und nostalgische Arbeiten. In der Fotografie Self-portrait with Roots, Los Angeles (2008) liegt Nabil am Fuss eines Baumes. Er hat sich zusammengerollt und schmiegt sich an den grossen Wurzelstock. Den kurz geschorenen Kopf hat er in seine Armbeugen gebettet. Die Augen sind geschlossen. Das Wurzelgewirr verteilt sich vom Ende des Stammes scheinbar endlos über den ganzen Bildraum und streckt sich der betrachtenden Person förmlich entgegen. Zwischen den blau-grauen Wurzeln sind leuchtende Grasflächen zu erkennen. Die Haut des Künstlers weist an einigen Stellen einen bläulichen Schimmer auf. Seine angewinkelten und überkreuzten Arme sind in den sich überlagernden Wurzeln wiederzuerkennen. Der abgebildete Mann wird durch seine Körpersprache und Haltung mit seiner organischen Umgebung und dem Kreislauf der Natur verbunden. Die Szene wirkt friedlich, aber auch kalt. Schläft er? Träumt er? Wo ist er?
Der ägyptische Künstler inszeniert sich in seinen Selbstportraits in verschiedenen Umgebungen in nostalgischer Wehmut. Doch welche Rolle gibt Nabil der Nostalgie in seinen Arbeiten und wie bewusst wird sie eingesetzt?
Die Farben der Fotografie sind beinahe zu echt und makellos, um real zu sein. Dies liegt daran, dass sie nicht den ursprünglichen Farben der fotografierten Szene entsprechen. Youssef Nabil vermischt in seiner künstlerischen Arbeit das Medium der Fotografie mit der Malerei. Er macht kontrastreiche Schwarz-Weiss-Fotografien mit einer analogen 35-Millimeter-Kamera (Wilson-Goldie). Anschliessend koloriert er seine Fotografien mit verschiedensten Materialien, darunter unter anderem Wasserfarben, Gouache oder Bleistift (Messina). Diese Technik ist sehr aufwändig und zeitintensiv. Jeder Abzug wird individuell gestaltet und durch die Handkolorierung zum Unikat. Nabil erklärt, dass er von alten ägyptischen Filmen inspiriert wurde und seine Bilder in diese Zeit zurücksetzen wollte (Neshat 9).
Die Selbstportraits, zu welchen auch Self-portrait with Roots, Los Angeles gehört, entstanden, nachdem der Künstler seine Heimatstadt Kairo verlassen hatte und nach Paris übersiedelte (Neshat 9). Die Bilder strahlen eine Ruhe, aber auch eine Melancholie oder gar Traurigkeit aus. Nabil selbst spricht oft von Nostalgie. Wenn man seine Selbstportrait-Serie betrachtet, fällt auf, dass er nie direkt in die Kamera blickt. Er zeigt sich von hinten, versteckt seinen Kopf unter den Armen, schliesst die Augen, oder schaut an der Kamera vorbei an einen unbestimmten Ort. Der Betrachter wird zum Komplizen des Künstlers, der auf dieselbe Szene schaut und dann unweigerlich nach etwas sucht. Youssef Nabil ist überzeugt: “There is always something that we look for, that we wish to have or understand or achieve, nothing is complete, and nothing will remain the same” (Wilson-Goldie).
Als Nabil Ägypten im Jahre 2003 verlassen hatte, fühlte er sich oft wie ein Besucher oder ein Reisender und wollte diese Stimmung in seinen Arbeiten wiedergeben (Wilson-Goldie). Doch Nabil spielt auch mit der Nostalgie. Sie kann als Stilmittel für seine Kunst verstanden werden. Für ihn war es ein künstlerischer Entscheid, sich mit der schmerzlichen Erfahrung des Vermissens seiner Heimat, dem „Entwurzeltsein“ auseinanderzusetzen. Zusätzlich spielt Nabil mit der Vorstellung des Exotischen, die vielleicht auch an Orientalismus grenzt. (Zaya 40).
In vielen Interviews spricht Nabil über seine Beziehung zu seiner Heimat Ägypten, wie ihn in der Ferne die Nostalgie einholt und ihn über seine eigene Existenz nachdenken lässt. Er ist der Meinung, dass seine Nostalgie darauf zurückzuführen ist, dass er das „alte Ägypten“, das er kennt und liebt, erhalten möchte. Der einzige Weg dies zu tun, sei für ihn die Kunst („Art of Youssef Nabil“). Hier kann eine Parallele zu Svetlana Boyms Auffassung von Nostalgie gezogen werden. Sie schreibt „Nostalgia (from nostos-returnhome, and algia-longing) is a longing for a home that no longer exists or has never existed. Nostalgia is a sentiment of loss and displacement, but it is also a romance with one’s own fantasy“ (Boym xiii). Durch Nabils Technik der Handkolorierung wird das Gefühl von Sehnsucht und Nostalgie zusätzlich unterstützt. Vielleicht ist seine Kolorierung als Romantisierung der eigenen Fantasie zu verstehen, die Boym erwähnt. Die Kolorierung der Szene wirkt so perfekt, dass es schwierig zu erraten ist, ob sie einer realen Szene gleichen will, oder ob sie Nabil selbst in einem Traum darstellen soll. Es scheint, als würde ein Nebelschleier über das Bild ziehen und alle Farben, so unterschiedlich sie auch sind, vereinen und eine sinnliche und verträumte Geschichte erzählen. Laut der Historikerin Lucie Ryzova (308) braucht Nostalgie die Abwesenheit von Kontext und Sinn, um zu funktionieren. In Nabils Fall ist die Schwelle zwischen Realität und Traum sehr verschwommen. Sinn und Kontext der Bilder sind daher schwierig zu deuten.
Die Arbeit Self-portrait with Roots, Los Angeles strahlt Einsamkeit und Verletzlichkeit aus. Aber Nabil zeigt sich auch von einer sehr sinnlichen Seite. Die Nacktheit seines Körpers in Kombination mit der künstlichen Kolorierung wirft die Frage auf, welche Rolle die Intimität für ihn spielt. Nabil zeigt sich nackt und verletzlich und doch addiert er eine künstliche Ebene der Farbe, unter der er sich und seinen Körper verstecken kann.
In einem Gespräch mit der Künstlerin Marina Abramović erklärt Nabil, dass sich die in der Fotografie abgebildeten Baumwurzel in der Nähe von Los Angeles befindet. Jedes Mal, wenn er daran vorbeiging, erinnerten ihn der Baum an seine eigenen Wurzeln und an Ägypten (Abramović und Nabil). Abramović liest die Wurzeln in Self-portrait with Roots, Los Angeles als Verlängerung der Armvenen von Nabil. Für sie wirke es, als würde er zwischen den Wurzeln fliegen und die Welt durch seinen Körper nähren.
In einem anderen Interview erklärt Nabil, dass er Ägypten hauptsächlich wegen seiner Arbeit verlassen habe (Aciman und Nabil). Ein zentrales Thema seiner künstlerischen Auseinandersetzung ist der Körper. Mit diesem Thema musste er in Kairo immer vorsichtig umgehen. Ausserdem habe sich Ägypten in seinen Augen verändert. Dieses Phänomen der Veränderung Ägyptens wird auch von Ryzova aufgegriffen. Sie erklärt, dass der arabische Begriff zamān in vielen Online-Foren und Archiven für alte ägyptische Fotografien von Usern verwendet wird. Zamānheisst wörtlich „Zeit“ oder „Zeitraum“, wird umgangssprachlich jedoch mit der Bedeutung „früher“ oder „vor langer Zeit“ verwendet. Ryzova (308) versteht das Wort als Begriff für das Nachtrauern einer Zeit, oder den Wunsch, alte Zeiten wieder aufleben zu lassen. Zamānentspricht also einer nostalgischen Idealisierung vergangener Zeiten. Youssef Nabil offenbart an dieser Stelle selbst nostalgische Gefühle, wenn er wehmütig anmerkt, dass das offene und kosmopolitische Ägypten von früher verschwunden sei. Vielleicht ist aber auch die romantisierte Vorstellung des Künstlers ein Grund für sein persönliches zamān. Nabil ist 1972 geboren. Hat er das „alte Kairo“ wirklich miterlebt?
Youssef Nabil erzählt durch diese Selbstportrait-Serie seine Geschichte. Er zeigt uns die Geschichte eines Künstlers, der seine Heimat verlassen hat. Mithilfe von Fotografien, die er bearbeitet und koloriert hat, wird das Gefühl der Nostalgie verdeutlicht. Anhand von Farben hebt Nabil seine inneren Gefühle im Medium Fotografie hervor. Somit erhalten die Bilder sowohl eine inhaltliche Tiefe, wie auch einen einzigartigen Charakter (Parry). Obwohl Nabil Ägypten verlassen hat, liebt er sein Heimatland nach wie vor und will mit seinen Bildern diesem wehmütigen Erinnern Ausdruck verleihen. So erzeugt der in der Fremde lebende Künstler, durch die künstliche Verfremdung seiner Fotografien, den Eindruck der Nostalgie.
Referenzen
Abramović, Marina und Youssef Nabil. “Youssef Nabil in Conversation with Marina Abramović.” Webseite des Künstlers, https://www.youssefnabil.com/info/texts/#/conversation_with_marina_abramovic/conversation_with_marina_abramovic_english. Letzter Zugriff 7. April 2021. Der Text wurde zuerst hier publiziert: Nabil, Obrist, Abramović. Youssef Nabil. Paris: Flammarion, 2013.
Aciman, André und Youssef Nabil. “Youssef Nabil in a conversation with André Aciman.” Webseite des Künstlers, https://www.youssefnabil.com/info/texts/#/in-conversation-with-andre-aciman/in-conversation-with-andre-aciman-english. Letzter Zugriff 21. Mai 2021. Der Text wurde zuerst hier publiziert: Sohier, Estelle. Une odyssée photographique. Fred Boissonnas et la Méditerranée, La Martinière, 2020. Katalog der gleichnamigen Ausstellung, 25. Sept. 2020-31. Jan. 2021, Musée Rath, Genf.
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Boym, Svetlana. The Future of Nostalgia. Basic Books, 2001.
Messina, Melissa. “I live within you”. Webseite des Künstlers, https://www.youssefnabil.com/info/texts/#/i_live_within_you_portraits_of_youssef_nabil/i_live_within_you_english. Letzter Zugriff 21. Mai 2021. Der Text wurde zuerst hier publiziert: Sohier, Estelle. Une odyssée photographique. Fred Boissonnas et la Méditerranée, La Martinière, 2020. Katalog der gleichnamigen Ausstellung, 25. Sept. 2020-31. Jan. 2021, Musée Rath, Genf.
Neshat, Shirin. “In conversation with Shirin Neshat.” I won't let you die. Edited by Youssef Nabil, Hatje Cantz Verlag, 2008, pp. 9-19.
Parry, James. “Memories of a lost land.”Webseite des Künstlers, https://www.youssefnabil.com/info/texts/#/memories_of_a_lost_land/memories_of_a_lost_land_english. Letzter Zugriff 10. April 2021. Der Text wurde zuerst hier publiziert: Parry, James. “Exclusive Youssef Nabil”, Canvas Magazine, Art and culture from the Middle East and Arab world, November/Dezember 2015.
Ryzova, Lucie. “Nostalgia for the modern: Archive fever in Egypt in the age of post-photography.” Photo archives and the idea of nation. Edited by Caraffa, Costanza & Serena, Tiziana, DeGruyter, 2015, pp. 301-319.
Wilson-Goldie, Kealen. “Youssef Nabil turns the lens on himself.” Webseite des Künstlers, https://www.youssefnabil.com/info/texts/#/youssef_nabil_turns_his_lens_on_himself/youssef_nabil_turns_his_lens_on_himself_english. Letzter Zugriff 5. April 2021. Der Text wurde zuerst hier publiziert: Wilson-Goldie, Kealen, “Young Egyptian photographer Youssef Nabil turns his lens on himself,” The Daily Star Lebanon, Oktober, 2005.
Zaya, Octavio. “Twilight: Unfolding Nabil’s desire.” I won't let you die. Edited by Youssef Nabil, Hatje Cantz, 2008, pp. 39-42.
How to cite this essay: Hannah Hänggi, "Kolorierte Nostalgie in den Selbstporträts von Youssef Nabil", in Laura Hindelang & Nadia Radwan (eds.), "Nostalgia and Belonging in Art and Architecture from the MENA Region. A Collection of Essays", Manazir: Swiss Platform for the Study of Visual Arts, Architecture and Heritage in the MENA Region, 18 October 2021, https://www.manazir.art/blog/nostalgia-and-belonging-art-and-architecture-mena-region/kolorierte-nostalgie-den-selbstportrats-von-youssef-nabil-hanggi