Der Palast Baron Empain in Heliopolis

Imperiale Nostalgie und koloniales Kulturerbe in Ägypten

Vera Reich

Palast Baron Empain, Heliopolis. Kairo, Ägypten. Fotografie von Nadia Radwan.
 

Das Aufkommen einer imperialen Nostalgie und damit einhergehende Renovationen und Restaurationen an Ruinen und Gebäuden aus der Kolonialzeit sind seit den 1990er Jahren wiederkehrende und umstrittene Themen in Ägypten (Moore 2017). Nostalgie wird gemeinhin als Gefühl der Sehnsucht nach Zugehörigkeit definiert. Es beschreibt je nach vorliegenden Gegebenheiten auch ein Verlangen nach etwas, das nicht mehr oder nur in der Vorstellung existiert(e). Svetlana Boym definiert Nostalgie als ein Gefühl von Verlust und Verdrängung oder als Romanze mit der eigenen Fantasie (Boym 13–14). Nostalgie kann somit auch als eine Form der Sehnsucht nach einer anderen Zukunft oder einer Utopie verstanden werden. Für den Literaturwissenschaftler Andreas Huyssen zählen insbesondere Ruinen zu den Orten, die durch ihre räumlichen und historischen Dimensionen bei der betrachtenden Person Nostalgie auslösen. In Ruinen sei die Vergangenheit präsent, aber auch nicht mehr zugänglich, was verfallene Bauten zu einem besonders starken Auslöser für Nostalgie mache (Huyssen 7).

Am Palast Baron Empain in Kairoer Stadtteil Heliopolis ist dies besonders gut zu beobachten. Der koloniale Palast wurde im Laufe seiner Geschichte durch vielschichtige Formen von Nostalgie- und Sehnsuchtsgefühlen geprägt. Diese beeinflussten nicht nur seine Entstehung und ursprüngliche Nutzung im frühen 20. Jahrhundert, sondern treten nun, nach den kürzlich beendeten staatlichen Restaurierungsarbeiten (2017–2020), in Form einer imperialen Nostalgie wieder in Erscheinung. Der Palace Baron Empain, auch bekannt unter dem Namen „Palais Hindou“, gilt als bekanntestes architektonisches Objekt der zentral gelegenen Orouba Avenue. Er besteht aus zwei Etagen, einem Dienstkeller und einer grossen Dachterrasse. Der angrenzende Turm ist auf vier Etagen begehbar und ermöglicht den Blick über den Bezirk Heliopolis. Das Erscheinungsbild des Palastes zeichnet sich im Besonderen durch seine Fassade aus, die mit hinduistischen und buddhistischen Ornamenten und Statuen dekoriert ist. Viele Terrassen, die sich auf unterschiedlichen Höhen befinden, umgeben das Gebäude und verbinden es mit einer grossen Parkanlage (Salam 9).

Der Namensgeber des Palastes, ein belgischer Geschäftsmann und Amateur-Ägyptologe namens Édouard Empain (1852–1929), kam im Jahr 1894 von Indien nach Ägypten, da seine Firma von der Regierung die Konzession für den Bau der Eisenbahnlinie von Mansourah am Nil nach Matariya bei Port Said erhalten hatte. In den darauffolgenden Jahren gründete der Unternehmer die Aktiengesellschaft Ain Shams Oasis Electric Company, die sich nordöstlich von Kairo mitten in der Wüste ein grosses Stück Land aneignete. Auf dem erworbenen Gebiet liess Empain ein Luxus- und Freizeitzentrum für Kairo bauen. Das entstehende Stadtviertel Heliopolis wurde mit breiten Alleen, Parkanlagen, Trink- und Abwasserversorgung, Strom, Mietwohnungen, Freizeiteinrichtungen und dem berühmten Heliopolis Palast Hotel konzipiert. Als Zielgruppe für die Siedlung hatte Empain die ägyptische Bourgeoisie und die zugezogenen Europäer*innen, die aus geschäftlichen Gründen nach Kairo zogen, im Sinn. Gleichzeitig sollte der Stadtteil aber auch als Tourismus-Magnet fungieren (Adham 150).

Der Palast liegt auf dem höchsten Punkt der Siedlung und diente dem Geschäftsmann als Familienresidenz. Empain gab den Bau um 1905 bei dem französischen Architekten Alexandre Marcel (1860–1928) in Auftrag. Das Gebäude wurde 1911 fertiggestellt und vom berühmten Künstler und Keramiker Georges-Louis Claude (1879–1963) dekoriert (Salam 9). Marcel, der sich bereits mit der Planung des kambodschanischen Pavillons an der Pariser Weltausstellung 1900 einen Namen gemacht hatte, liess sich bei beiden Projekten von Ornamenten und Skulpturen der Angkor Wat Tempel in Kambodscha und der Hindu-Tempel im indischen Orissa inspirieren. Um den hinduistischen Stil möglichst authentisch nachzuahmen, wurden Gipsabdrücke der ursprünglichen Figuren erstellt und nach Kairo geschifft, um sie schliesslich vor Ort in Beton abzugiessen (Flour 68). Diese Technik machte es später möglich, die Figuren nach ihrem Verfall ohne grossen Aufwand zu restaurieren (Salam 8).

Nostalgie und Sehnsucht nach einer exotischen, mystischen Welt und die daraus resultierenden ökonomischen Interessen sind mögliche Erklärungen, warum ein reicher europäischer Geschäftsmann in der Wüste nahe Kairo eine eklektizistische Replikation eines hinduistischen Tempels anfertigen liess. Der im späten 19. Jahrhundert aufkommende Trend, architektonische Denkmäler der Khmer-Ära zu reproduzieren, ging Hand in Hand mit der französischen Besetzung Indochinas, schreibt die Kunsthistorikerin Isabelle Flour. Das architektonische Erbe der Khmer galt in Europa als Verkörperung des mystischen Orients. Diese Vorstellung, später von Edward Said als Orientalismus benannt, diente dem imperialistischen Narrativ, indem es fremde Kulturen exotisierte und ihre vorrevolutionären und vormodernen Eigenschaften hervorhob. Die Orientfantasien wurden in Europa anhand von Erzählungen, literarischen Berichten, Postkarten und Gemälden verbreitet. Auch die beiden Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galten als treibende Kraft, Ägypten zu „orientalisieren“ und beim europäischen Publikum Sehnsuchtsgefühle nach einer imaginierten exotischen Ferne hervorzurufen (Adham 148–149). Dem Narrativ des mit weiblichen Attributen konnotierten Orients wurde ein rational denkender und somit überlegener Westen gegenübergestellt, um die imperialen Zivilisierungsmissionen in Kolonialgebieten zu legitimieren (Flour 63). In Heliopolis sind neben Gebäuden im neopersischen und neoislamischen Stil auch eklektizistische Bauten in französischen, spanischen oder eben neohinduistischen Stilen zu finden, die dem Viertel seine exotische Atmosphäre verleihen (Moore 99). Dass der Palast Baron Empain im neuen Stadtteil Kairos stand und nicht in Südostasien, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Heliopolis sollte eine „Oase in der Wüste“ darstellen, ein stereotypisiertes Bild, welches dem orientalisierenden Narrativ entsprach und den europäischen Feriengästen vertraut war und damit der Tourismusindustrie diente (Adham 149).

In den Jahrzehnten seit dem Militärputsch von 1952 wurde die Instandhaltung des Palastes stark vernachlässigt, weshalb das Gebäude in allen Bereichen, darunter Stahlträgerkonstruktion, Ornament- und Figurenschmuck, Oberflächen sowie Türen und Fenster, grosse Schäden entwickelte (Salam 9). Im Zuge des arabischen Frühlings oder aus städtebaulichen Gründen wurden koloniale Bauten teilweise auch absichtlich zerstört (Moore 427). Das Engagement von Amateur-Historiker*innen, Zivilbürger*innen, privaten Vereinen und Medien sowie öffentliche Aktionen gegen den Zerfall von Gebäuden im Stadtraum von Kairo haben schliesslich massgeblich Druck auf die ägyptische Regierung ausgeübt, koloniale Bauten zu restaurieren („Destruction Alert“). Auch die Bezeichnungsveränderung von „Kolonialbauten“ in „Belle-Epoque“-Architektur habe wesentlich dazu beigetragen, dass die Regierung das imperiale Kulturerbe als Teil der modernen Geschichte Ägyptens anerkannte, schreibt die französische Kunsthistorikerin Mercedes Volait. Unter „Belle Epoque“-Architektur verstehe man heutzutage in Ägypten alles, was zwischen 1850 und 1950 errichtet wurde. Negative Konnotationen einer unterdrückerischen Kolonialzeit sind im Begriff „Belle Epoque“ nicht ersichtlich, was die Erscheinung einer imperialen Nostalgie erst denkbar machte.

So kam es, dass im Jahr 2007 der verfallene Palast Baron Empain in den Besitz des ägyptischen Ministeriums für kulturelles Erbe (Supreme Council of Antiquities, SCA) überging und sich die Regierung für eine Renovierung des Baus im Rahmen eines grossen Restaurierungsplans, in dem acht weitere Kulturerbstätte und Gebäude enthalten sind, aussprach. Für das gesamte Renovierungsprojekt wurden 1,27 Billion Ägyptische Pfund bereitgestellt, davon 114 Millionen für den Palast (Salam 9). Die Restaurierungsarbeiten haben 2017 begonnen und sind kürzlich fertiggestellt worden. Im Jahr 2020 wurde der Palast mit Festlichkeiten und einem Besuch des amtierenden Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi eingeweiht. Zukünftig soll das Gebäude als Bühne fungieren, auf der die Geschichte Heliopolis mittels Licht- und Soundinstallationen vermittelt wird. Der Verfall ist heute nicht mehr ersichtlich, denn der Bau wurde so stark renoviert, dass er beinahe wie eine exakte Nachbildung seiner selbst erscheint. Andreas Huyssens Aussage, dass die Gegenwart ein Zeitalter der originalgetreuen „Remakes“ und die „authentische Ruine“ selbst zu einem historischen Konzept geworden sei, scheint hier sehr zutreffend. Huyssen weist darauf hin, dass „authentische Ruinen“, wie es sie im 18. und 19. Jahrhundert noch gab, in unserer heutigen Erinnerungskultur keinen Platz mehr haben (Huyssen 10) — oder schlichtweg nicht mehr existieren.

Das Aufkommen der kolonialen Nostalgie in Ägypten sei jedoch kein perverser oder masochistischer Wunsch nach der Wiederherstellung des Kolonialismus durch diejenigen, die ihm einst unterworfen waren, meint der Soziologe und Anthropologe William Cunningham Bissell. Vielmehr beinhalte das Gefühl der Nostalgie eine Sehnsucht nach etwas, was nicht wiederhergestellt werden könne, nach etwas Totem und Vergangenem. Nostalgie markiere die Grenze zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen und verankere somit den Kolonialismus an einem entfernten Horizont, während es ihm gleichzeitig eine denkmalhafte Aura verleihe, so Bissell (225–226). Die Anerkennung des kolonialen Erbes als Teil der modernen Geschichte Ägyptens kann als Aufarbeitung der Geschichte und als Wiederaneignung des Raumes verstanden werden und wirft gleichzeitig viele Fragen zur Dynamik von kulturellem Erbe und nationalen Mythen in der Gegenwart auf.

 

Referenzen

Adham, Khaled. “Cairo’s Urban Déjà Vu: Globalisation and Urban Fantasies.” Planning Middle Eastern Cities. An Urban Kaleidoscope in a Globalizing World. Edited by Yasser Elsheshtawy, Routledge, 2004, pp. 134-168.

Boym, Svetlana. The Future of Nostalgia. Basic Books, 2001.

Bissell, William Cunningham. “Engaging Colonial Nostalgia.” Cultural Anthropology, vol. 20, no. 2, 2005, pp. 215-248.

“Destruction Alert: Villas in Heliopolis and More.” Cairobserver, 17. Januar 2012, https://cairobserver.com/post/15970330648/destruction-alert-villas-in-heliopolis-and-more. Letzter Zugriff 20. Mai 2021.

Flour, Isabelle. “Orientalism and the Reality Effect: Angkor at the Universal Expositions, 1867–1937.” Getty Research Journal, vol. 6, 2014, pp. 63-82.

Huyssen, Andreas. “Nostalgia for Ruins.” Grey Room, no. 23, 2006, pp. 6-21.

Moore, James. “Making Cairo Modern? Innovation, Urban Form and the Development of Suburbia, c. 1880–1922.” Urban History, vol. 41, no. 1, 2014, pp. 81-104.

Moore, James. “The Alexandria You Are Losing? Urban Heritage and Activism in Egypt Since the 2011 Revolution.” Journal of Eastern Mediterranean Archaeology & Heritage Studies, vol. 5, no. 3/4, 2017, pp. 427-444.

Salam, Nesreen Fathy Abdel. “HBIM. A Sustainable Approach for Heritage Buildings Restoration in Egypt.” IOP Conference Series. Earth and Environmental Science, vol. 410, 2020, pp. 1-13, http://dx.doi.org/10.1088/1755-1315/410/1/012072. Letzter Zugriff 20. Mai 2021.

Volait, Mercedes. “The Reclaiming of ‘Belle Époque’ Architecture in Egypt (1989–2010): On the Power of Rhetorics in Heritage-Making.” ABE Journal, no. 3, 2013, https://doi.org/10.4000/abe.371. Letzter Zugriff 20. Mai 2021.


How to cite this essay: Vera Reich, "Der Palast Baron Empain in Heliopolis: Imperiale Nostalgie und koloniales Kulturerbe in Ägypten", in Laura Hindelang & Nadia Radwan (eds.), "Nostalgia and Belonging in Art and Architecture from the MENA Region. A Collection of Essays", Manazir: Swiss Platform for the Study of Visual Arts, Architecture and Heritage in the MENA Region, 18 October 2021, https://manazir.art/blog/nostalgia-and-belonging-art-and-architecture-mena-region/der-palast-baron-empain-heliopolis-reich

Nostalgia and Belonging in Art and Architecture from the MENA Region


edited by Laura Hindelang and Nadia Radwan


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